1. Vertrauen ins Ungewisse
Wir leben in einer Zeit des lauen Behagens.1 Komfort hat das Abenteuer als Ziel gesellschaftlichen Strebens weitestgehend ersetzt und die gestaltete Welt begegnet uns in funktionsoptimierter und ästhetisch domestizierter Form. Wir vergessen bei der Suche nach steter Optimierung die Leidenschaft und verfallen in einen Zustand den Rem Koolhaas einst «den traurigen Modus der simulierten Erfindung»2 nannte. Jede Handlung ausserhalb gängiger Normen und Konventionen trifft auf Skepsis und hat mit grossen Widerständen zu kämpfen. Trotzdem sind die vordergründige Einzigartigkeit und das Neuartige hoch im Kurs. Ein persönlicher, einzigartiger Lebenslauf ist gefragter als die normierte Karriere und fast in jedem Bereich unseres Lebens wird uns das Besondere als besonders erstrebenswert angepriesen. In dieser Gesellschaft der Singularitäten3 führt das Bedürfnis nach Sicherheit zu einer immer technokratischeren Perspektive auf unser Schaffen. Gestaltung soll keine Risiken eingehen, sondern zuverlässig zu Einzigartigem führen. Jede noch so individuelle Realität wird vermessen und verglichen. Unser Wunsch alles sicher und zuverlässig planen zu können zwingt uns zur Scheinobjektivierung aller Handlungen: Selbst das Subversive oder das Kritische werden auf direktem Wege in neue Kategorien überführt und politisch korrekt diskutiert.4 Kaum jemand getraut sich das wahrhaft Neue, das Unbekannte und das Nonkonforme zu denken, da ihre Performance nur schwer vorhersehbar ist. Um uns vom lauen Behagen zu lösen und uns wieder dem echten Erlebnis zuwenden zu können, müssen wir mit Mut, Zuversicht und Kühnheit unser Vertrauen ins Ungewisse und damit unser Vertrauen in die Zukunft zurückerobern. Wir müssen der Idee wieder genauso vertrauen wie dem Beispiel. Und hier kommt die Jugend ins Spiel! Ich möchte Jugend nicht als Begriff für eine bestimmte Altersgruppe oder eine bestimmte Phase des Schaffens verstehen: Jugend ist eine Haltung.
2. Die Dinge an sich
Dank ihrem kreativen Potential und ihrer Freiheit kann der Jugend die Rolle des dringend notwendigen, gesellschaftlichen Eisbrechers zukommen. Ihr freies und radikales Denken und ihre unvoreingenommene Sicht auf Dinge sind unserer spätmodernen Gesellschaft abhandengekommen. Jugend als Haltung ist die einzigartige Gelegenheit, Dinge zu tun, welche nicht bereits über Erfahrungswerte, Benchmarks und Vergleichswerte evaluiert wurden, sondern gerade aus ihrer Erstmaligkeit Kraft schöpfen. Oder wie Guy Debord es beschrieb: «Wir leben umso weniger, je mehr wir uns in den herrschenden Bildern der Bedürfnisse zu erkennen glauben»5. Wir müssen uns befreien von Festgefahrenem und Rezepthaftem, scheinbar Zwingendes überwinden und aus den aktuellen, ganz konkreten Fragestellungen konkrete Antworten entwickeln. Jugend als Haltung lehnt die Apriori unserer Zeit ab, verweigert sich den herrschenden Ängsten unserer Gesellschaft und sucht mit Pioniergeist nach den Gestaltungsmöglichkeiten für eine bessere Welt. «Die Zivilisation schreitet nur deshalb voran, weil manche Leute willens sind, befremdliche, irrationale und verstörende Töne anzuschlagen»6. Für uns als Gestalter sollte dabei Offenheit sowohl Methode wie auch Ziel sein: Wir können konsequent die Kategorien ablehnen, die unser freies Denken einschränken. Wir können sachlich und scharfsinnig unsere Gedanken und Ideale neu ordnen. Wir können Massstäbe und Relevanzkriterien ablehnen, welche unser Urteil katalogisieren und vorwegnehmen wollen. Wir können die Offenheit kultivieren Dinge zu denken, welche weder als geäusserte Bedürfnisse noch als bereits bekannte Angebote bestehen - sondern wahrhaft neu sind. Als Architekten haben wir zu oft die Tendenz, entwurfsrelevante Themen und Parameter als Gegenpole zu formulieren, ein Spannungsfeld zu erzwingen, um dann zu versuchen, sie unter mysteriösen Umständen und von Meisterhand zu einen. Schauen wir uns zum Beispiel die gängige Trennung von inhaltlicher Konzeption und ökonomischer Realität an: Die Gestalt wird als Produkt zweier Kräfte mit gegensätzlichen Zielen verstanden. Die Ökonomie konstituiert sich beim Planen und Entwerfen erst dadurch als Gegner der idealen Konzeption, da sie nicht als Teil dieser begriffen wird. Wirtschaftlichkeit muss kein äusseres Gewissen bleiben, welches die Gestaltung zu überwachen versucht, sondern kann ein integrales und bedeutungstragendes Attribut dieser werden: Die Wahl von Art und Menge der Mittel kann eine gestalterische oder gar kulturelle Aussage sein. In diesem Sinne kann Jugend klärend wirken, indem sie die Dinge an sich, nicht die Ihnen zugeschriebenen Aufgaben und Bedeutungen betrachtet.
3. Einflussnehmendes Handeln
«An die Stelle leidenschaftlicher Entscheidung, die den Raum der Erfahrung eröffnet, tritt eine erschöpfende und entwertende Dynamik, die Erfahrung verunmöglicht: Permanentes Abwägen und andauerndes Abgleichen von potenziell austauschbaren Optionen»7. So bestätigen wir konstant eine Realität welche den differenzierten Ausdruck von Bestehendem als Mittel des kreativen Schaffens sieht, welche Neues erschwert und - wenn es dann doch zu entstehen wagt - sofort vermisst und kategorisiert. Das Neue wird domestiziert und steht fortan als Neuartiges zur Reproduktion zur Verfügung. Das junge Denken will diesen Modus überwinden: Junges Denken hat nichts mit dem Jahrgang zu tun, denn viele Junge verhalten sich auf der Suche nach einer guten Position im sozialen Gefüge der Leistungsgesellschaft ausgesprochen alt. Fehlende Erfahrung wird zu selten als Chance und zu oft als Manko begriffen - doch weder ist Erfahrung eine Währung, noch ist junges Denken ihr Gegenpol. Richtig spannend wird es gerade dann, wenn wir entschieden und erfahren jugendlich denken! Versuchen wir uns dieser Idee mit Claude Levi-Strauss zu nähern. Levi-Strauss hat sich als Empiriker begriffen, als anthropologischer Forscher welcher seine Erkenntnisse aus den Erlebnissen mit verschiedenen Kulturen zieht. Seine These des wilden Denkens8 propagiert eine Art des Denkens, welche zwar die Abstraktion kennt aber sich nicht gezähmt verhält. Das wilde Denken wendet sich der Vielschichtigkeit einer breiten Wahrnehmung zu und verweigert sich einer strikten Auswahl von Merkmalen nach Relevanzkriterien. Es lotet mit einer positiven Naivität Möglichkeiten aus und beurteilt Ergebnisse nicht nach dem Ideal sondern anhand realer Erfahrung. Junges Denken erweitert diese Idee um die prägende Dimension der Hoffnung. Obwohl diese durchwegs positiv konnotiert ist, bedingt sie immer erst eine Situation in welcher Veränderung herbeigesehnt wird. Die Hoffnung sollte also mit fortschreitender Erfahrung nicht schwinden, sondern wachsen: Wir begreifen ja gerade erst mit steigender Erfahrung, wie sich die Welt stets verändert und weiter verändern kann. Was also das junge Denken vom heute gängigen Ideal des spezialisierten Denkens unterscheidet, ist die Bereitschaft zur Offenheit. Junges Denken sucht Kohärenz nicht in Vereinfachungen, sondern konstruiert Realität als komplexes Ganzes. Junges Denken verleugnet nicht «die unübersehbare Vielfalt und alle Widersprüchlichkeiten, wie sie zum Wesen der Kunst und der realen Erfahrung gehören»9, sondern stellt sich dem schwer Fassbaren. Es gilt nicht die mehr oder minder direkte Reaktion auf einen gegebenen Kontext zu suchen, sondern unsere gestalterische Tätigkeit als einflussnehmende Handlung in einer weitestgehend gestalteten Welt zu verstehen. Architektur ist keine Antwort auf, sondern ein Eingreifen in diese Welt. Sie steht in steter Wechselwirkung zur Gesellschaft, bedient konkrete Nachfragen, spielt nach Regeln und agiert im Spannungsfeld der Einschränkungen und des äusseren Drucks. Ihre Aufgabe endet eben nicht mit der adäquaten Reaktion, sondern beinhaltet immer auch relevante Fragen zu stellen. Die gestaltete Form schliesst Dinge ein und andere aus; sie kann weder richtig noch falsch sein; sie verhandelt das Dazwischen. Wenn das grösste aller Vergehen die Indifferenz ist10, ist junges Denken Verantwortung. Es darf nie als Entschuldigung für mangelnde Teilnahme fungieren, es will nicht den Status Quo wahren, glaubt an Fortschritt, nimmt die Zukunft in die eigenen Hände und versteht Gestaltung als gesellschaftliche Partizipation. Die Jungen sollten sich – trotz aller Demut und dem gebührenden Respekt vor unseren Aufgaben und Herausforderungen – nie hinter der Idee des Lehrlings verstecken.
4. Echte Erfahrungen
Es ist kein Zufall, dass in vielen kreativen Berufen die anhaltende Adoleszenz als idealer Modus gilt. Die bekannten Bilder der Werbeagentur als Spielplatz sind dabei immer auch problematisch. Während der «Mann im Grauen Flannel»11 die Gesellschaft mit seiner Fähigkeit die Wahrnehmung zu formen und Bedürfnisse zu kreieren beunruhigt hat, wird der heutige Gestalter als zu gleicher Massen sympathische aber auch harmlose Person mit bunten Mindmaps und Sneakers klischiert12. Als praktizierende Architekten sollten wir im jungen Denken die immensen Potenziale aber eben auch seine Gefahr sehen. Es gilt das wahrhaft Neue nicht mit dem Spektakel – bei welchem Mittel und Zweck zusammenfallen und es zu nichts Weiterem als zu sich selbst bringen will – zu verwechseln13. Die moderne Idee des heroischen Originals welches universell gültig und somit reproduzierbar ist, wurde in der Postmoderne überholt: Gestaltung wurde originell. Das wahrhaft Neue ist weder Original noch originell, es sucht eine Gültigkeit für den Betrachter, die über die kurzfristige Stimulation hinausgeht und bei ihm individuelle Bedeutung schafft. Dieser Paradigmenwechsel gilt es in seiner Bedeutung für unser Schaffen zu verstehen. Architektur ist gestaltete Umwelt, sie wird durch unsere Wertvorstellungen geprägt und prägt diese ihrerseits und in steter Wechselwirkung14. Unter allen gestaltenden Disziplinen kommt der Architektur daher eine besondere Rolle zu: Sie ist die physische Welt, welche uns fast immer umgibt. Sie ist in diesem Sinne stets real, hat jedoch bei der Suche nach Originalität den fiktiven Bildern nachzueifern begonnen. Unsere spätmoderne Architektur wird dadurch zu dem was Jean Baudrillard als Simulation bezeichnet hat15. Das in den Bildern transportierte Ideal und das noch nicht real Erreichte formen die Ziele unseres Schaffens. Die reale Architektur versucht nicht mehr neue Realitäten zu schaffen, sondern jagt dem irrealen Bild nach. Baudrillard unterscheidet neben der Realität zwischen der Verheimlichung des real Existierendens (der Dissimulation) und der Vortäuschung des Nicht-Existierendens (der Simulation). Dabei ist vor allem die Simulation gefährlich, da sie sich – ungleich der Dissimulation – dem Realitätsprinzip widersetzt. Die Simulation gaukelt Reales vor wo nichts ist und stellt unsere Konstitution von Sinn und Bedeutung in Frage. Architektur als Simulation verliert in der Folge jegliche Relevanz. Hier muss unsere Verantwortung einsetzen und hier kommt das junge Denken wieder ins Spiel: Wir müssen unsere Suche dem Echten widmen. Wir müssen reale Erfahrungen gestalten, welche beim Betrachter Regungen, intellektuelle Reflexion oder emotionale Veränderungen auszulösen vermögen. Diese schwer fassbaren Qualitäten können nicht durch blosse Reproduktion bekannter Bilder geschaffen werden, sondern sind in ihrem Wesen immer neu. Gestaltung muss dabei Haltung einnehmen, denn das bloss Originelle nutzt sich stets und mit steigender Geschwindigkeit ab, verliert seine Wirkung und das Interesse an ihm schwindet. Baukultur kann nicht die Probleme unserer Gesellschaft lösen, doch sie steht in der Verantwortung. Sie sollte sich selbst und die Gesellschaft herausfordern, kritisch und im eigentlichen Wortsinn politisch sein. Nur so entsteht Relevanz über die Grenzen unseres Metiers hinaus.
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1. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1930, S.10 ↩
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2. Rem Koolhaas/ Bruce Mau, S,M,L,XL, 1995, S.616 ↩
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3. Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017 ↩
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4. Vgl. Marcus Quent, Kon-Formismen, 2018 ↩
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5. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967, S.26 ↩
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6. Richard Rorty Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gesellschaft der Philosophen, 2000, Epilog ↩
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7. Vgl. Marcus Quent, Kon-Formismen, 2018 ↩
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8. Vgl. Claude Levi-Strauss, Das wilde Denken, 1962 ↩
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9. Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch, 1966, S.18 ↩
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10. Vgl. Jean Baudrillard, Die Agonie des Realen, 1978 ↩
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11. Film Im engl. Original: The Man in the Gray Flannel Suit von Nunally Johnson, 1956 ↩
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12. Vgl. Rem Koolhaas in diversen Vorträgen 2009-, Challenge Vs. Comfort ↩
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13. Vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967 ↩
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14. Vgl. Silke Steets, Die Sinnhaftigkeit der gebauten Umwelt, 2015 ↩
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15. Vgl. Jean Baudrillard, Die Agonie des Realen, 1978 ↩






