83 Lila Strauss #4 – Irritation aktuell, text

«Nie und Immer» – Eine persönliche Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und Gegenwart


Die Irritation spielt für mein gedankliches Modell der Wahrnehmung eine zentrale Rolle. In ihrem eigentlichen Wortsinn, als etwas was aus der Reibung meiner individuellen Erwartungen an der Wahrnehmung der Welt entsteht, baut sie auf labilen Fundamenten und scheint schwer fassbar. Weder sind meine Erwartungen eine feste Grösse, die unabhängig von Tagesform und aktuellem Fokus existieren, noch gibt es eine Form der objektiven Auffassung – also einer Auffassung bei der ich mich komplett aus der Gleichung nehmen könnte – der Geschehnisse um mich herum. Irritation entsteht vereinfacht ausgedrückt also irgendwo zwischen dem was ich glaube zu wollen und dem was ich glaube zu sehen. Dies ist für uns als Architekt:innen mehrfach interessant. Zum einen konfrontiert es uns mit einer Vielzahl von Fragen bezüglich Wahrnehmung und Gegenwart; beides elementare Phänomene für gezieltes Planen und Handeln. Zum andern destabilisiert es die Idee eines festen Kontextes oder einer Realität, in der Veränderung nicht möglich oder nur von übergeordneten Strukturen ausgehend denkbar ist.


So möchte ich Architektur anhand ihrer Oberflächen, Schwellen, Räume oder Lücken, gelesen als dynamische, kulturell konnotierte und produzierte Fragmente diskutieren. Manchmal harmonisch und manchmal dissonant, manchmal vordergründig und manchmal leise im Hintergrund, wirken sie auf uns und jedes in unserem Kopf konstruierte Bild der Welt. Dabei verändern sich ihre Bedeutungen und Lesearten je nach Kontext, Kombination oder Konnotation. Sie nutzen sich ab oder verstärken sich, sie durchdringen sich, steigern ihre Wirkung bis zu einem unsichtbaren Schwellenpunkt, um sich dann abrupt und ohne Ankündigung in ihr Gegenteil zu verkehren. Mir scheint der Begriff des Fragments, obwohl oftmals überstrapaziert, hier sehr passend: Das Fragment impliziert etwas gegenwärtig Unabhängiges und Loses, etwas das für sich selbst steht und autonom begriffen werden kann, dabei jedoch immer auch Teil eines grösseren Ganzen ist, war oder jeder Zeit werden kann.


Nähern wir uns der Wahrnehmung über die Irritationen an, zeigen sich Zusammenhänge, die zum kritischen Verhältnis zur Gegenwart beitragen können. Ich bin Architekt und kein Soziologe und möchte auch diesen Text aus einer entschieden disziplinären Perspektive schreiben, muss mir jedoch gewisse Beobachtungen und Ausflüge erlauben. Nur über die Auseinandersetzung mit den fundamentalen Wahrnehmungsphänomenen und über die Frage nach den veränderten Rollen von Affekten und Kognition scheint eine angemessene Reflexion der gestalterischen Tätigkeit noch möglich. Ich möchte behaupten, dass heute beides wahr ist: Wir sind nicht mehr in der Lage irritiert zu sein und wir sind konstant irritiert. Dieser Zusammenfall der Gegensätze1 gründet in der fortschreitenden Ablösung der äusseren Eindrücke und Bilder vom eigentlichen Wesen der Dinge. Ein seit längerem zu beobachtendes, gesellschaftsdurchdringendes Phänomen, das nicht bloss als äusserer Faktor auf unsere Arbeit einwirkt, sondern reziprok mit ihr verbunden scheint. Wir internalisieren Werte nicht bloss, wir produzieren sie. Ohne eine minimale, implizite Konvention über das Verhältnis vom Ausdruck und dem Wesen einer betrachteten Architektur, geht das Konzept der Irritation nicht mehr auf. Tappen wir diesbezüglich im Dunkeln, können wir keinen andern Zielkonflikt ausser den der Absenz klarer Ziele ausmachen. So scheint es, als hätte sich die Ablösung von Bildern im letzten Jahrhundert – vom Zusammenspiel der freien Marktwirtschaft und den Möglichkeiten technischer Vervielfältigung begünstigt2 – unaufhaltsam beschleunigt und zur Normalität entwickelt. Selbst subversive Tendenzen wurden, wenn sie denn eine kritische Grösse und Kraft entwickelt haben, sukzessive Vermessen und für den populären Gebrauch zugänglich gemacht. Die langen Haare der Hippies wurden zum Lifestyle junger Manager und Politiker; die prekären Besetzungen leerer Industrieräume wurden zum Ausdruck eines kreativen Lebensstils der bürgerlichen, gebildeten Mittelschicht.


Als Kind der Achtzigerjahre durchlief ich meine (sekundäre) Sozialisierung irgendwo zwischen Mauerfall und dem anhaltenden Siegeszug des Internets in den späten Neunzigern. Dinge die heute als einschneidende Umwälzungen diskutiert werden, schlichen sich beiläufig und von Affirmation und Zuversicht begleitet in unsere Haushalte. Die Technologie bringt neue Möglichkeiten; die Möglichkeiten bringen Wohlstand und Komfort; der Komfort gewährt allen ein besseres Leben. Und noch heute scheint die verführerische Kraft des Komforts zu wachsen. Er hat sich längst als leiser Regent unseres Tuns etabliert und alle Bereiche unseres Lebens erreicht. Ich wage nicht zu behaupten die intrinsische Dynamik dieser Verschiebung umfassend durchleuchten zu können, doch fallen mir Korrelationen auf, Veränderung in der Art wie wir Dinge gestalten und wie der Diskurs geführt wird.


Komfort ist ein durch gemachte Dinge – durch Anlagen, Maschinen oder Räume – hervorgerufenes Gefühl der Bequemlichkeit und des Behagens. Ungeachtet des in Zentraleuropa beispiellos hohen Lebensstandards, scheint die grenzenlose Vermehrung von Komfort als exklusives A-Priori Ziel zu bestehen. Gerade in der populären Architekturproduktion unserer Zeit, bei der Aushandlung von individuellen und gemeinschaftlichen Lebensräumen, wird dies offensichtlich. Als ob es die letzte Verlängerung des gescheiterten Traumes vom endlosen Wachstum wäre, ist die Steigerung des Komforts zum Leitmotiv geworden. Dabei ist Komfort in seinem Wesen, so wie beispielsweise Wärme oder Stille, eine weder positiv noch negativ zu wertende Empfindung. Bequemlichkeit und Behagen3 taugen nicht als allgemeingültige Qualitätsmerkmale, sondern sollten eher als mögliche Spielart, als Pol einer räumlichen Klaviatur verstanden werden. Die vorbehaltlose Anhäufung von Komfort, zur Verdeutlichung nochmals in Analogie zum Wachstum gelesen, vermag also keine starken Raumerfahrungen zu vermehren, sondern lediglich die vorhandenen Eindrücke zu verwässern oder verdünnen. Wir schaffen heute Räume in denen es immer ähnlich warm, ähnlich laut, ähnlich hell oder ähnlich feucht ist. Wir suchen nach funktionalen Organisationen in denen die Menschenströme wohl geordnet und die Handlungen in Abhängigkeit zu ihrer Zeit, präzise zum Tageslicht verteilt werden. Architektur wird zur nivellierenden Maschinerie, die alles Unplanmässige und von äusseren Faktoren Bestimmte auszuschalten sucht. Sie hüllt uns in laues Behagen und schafft eine Kondition, in der es uns an möglichst wenig fehlt und wir uns mit möglichst wenigen Eindrücken auseinandersetzen müssen. Verloren gehen dabei die Kontraste, die Zwischentöne, die heftigen Eindrücke und die Reibungsflächen – Dinge die wie andernorts in unserem Leben, kontrollierbar und im Rahmen planbarer Tätigkeiten zu kompensieren sind.


Dabei beobachten wir heute ein interessantes Paradox. Der Anspruch auf stete Neuheit geht einher mit einer Fixierung auf Beispiele, Normative und Musterlösungen. Während der freie Markt der klassischen Moderne die Allgemeingültigkeit der Massenprodukte im Angebot hatte, dominiert heute – noch immer unter identischen Produktionsmethoden gefertigt – das Singuläre.4 Der Sneaker als Ikone der Popkultur verdeutlicht dieses Phänomen. Als serielles Produkt konzipiert, bekommen die erfolgreichsten Modelle mittlerweile monatlich neue Farb- und Materialvarianten, limitierte Auflagen, Co-Brandings und Sondereditionen. Hocheffizient auf derselben Fertigungsstrasse hergestellt und auf demselben, einmal entwickelten Grundgerüst aufgebaut, soll ihnen das Besondere einen affektiven Mehrwert verleihen. Genau so, wenn auch in minderem Tempo, verhält es sich gerade mit einer ganzen Sparte populärer Architekturproduktion. Wo sich früher über Langzeiterfahrung mit Typen – über ihre Nutzung, Missnutzung und Umnutzung – bauliche Strategien durchgesetzt haben, werden heute Pläne als raumschaffende Rezepte banalisiert. Dabei wird die Performanz des jeweiligen Plans über eine subjektiv gewählte Zahl von Kennwerten, vermeintlich objektiviert. Wo sich früher über die enge Verbindung von verfügbarer Technologie, Politik und Gesellschaft kulturell verankerte Architekturvokabulare entwickelten, driften heute Ausdruck und Struktur als unabhängige Kräfte auseinander. Damit ist nicht nur die oft diskutierte, seit der Ölkrise völlig plausible, Emanzipation der Fassade von der Struktur gemeint. Die hier beschriebene Ablösung schürft tiefer und erodiert sicher geglaubte Implikationen. Die innere Logik des Entwurfs ändert sich nur träge über die Evolution von Programmen, Technologien, Materialien oder der veränderten Gewichtung ihrer Anforderungen. Das Bild – und damit ist die Fassade genauso wie der Innenausbau und alle sichtbaren Oberflächen gemeint – erlangt eine flüchtige Eigendynamik und sucht stets den Geschmack des Neuen. Dieses Neue schätzen wir bloss in Form des Neuartigen, wenn es keine wirkliche, keine fundamentale oder strukturelle Veränderung mit sich bringt. So wird die Konstruktion und die generelle Machart der Dinge jeder Aussage entledigt, ausser sie kann zum Image, zur Vorstellung eines Charakters, beisteuern.


Der Konsum ist zum konstruierten Mythos geworden. Wir sind alle Sammler des Neuen geworden, bei dem stets das eine letzte Stück fehlt, welches zur Vollständigkeit nötig wäre5 . Da Häuser für den langfristigen Bestand konzipiert sind, überleben sie gängige Trends. Als praktizierende Architekt:innen betrifft uns also die wahnhafte Tendenz der Neuheit ganz besonders. Die Frage ob gegenwärtige Architektur irritieren kann, verdeutlicht dabei die vorher umschriebene Verschiebung, die wir in Anlehnung an «Die Gesellschaft des Spektakels»6 als Ablösung bezeichnen können. Der Zwang zur steten Verfügbarkeit und der zuverlässigen, augenblicklichen Wirksamkeit haben gesiegt. Der Affekt wird zum Selbstzweck und das Neuartige zum schnellen Kick. Schaut man sich den – trotz mehrerer, anhaltender Krisen – boomenden Bausektor an, verwundert dies nicht. Das sinkende Vertrauen in den Aktienmarkt leitet seit 2008 Gelder ins Bauwesen, die früher in unsichtbare Finanzprodukte flossen. Das Kreativitätsimperativ und das gesteigerte Interesse an Immobilien gehen Hand in Hand und werden zum Turbo der schnellen Bilder. Die sich endlich erneuernden ökologischen Anforderungen ans Bauen kommen just zum Zeitpunkt, als Architektur die Bodenhaftung verloren und sich Normalität, Authentizität oder Exklusivität als wertfreie Spielarten innerhalb eines saturierten Marktes etabliert haben. Die Erwartung, dass wir Architekt:innen diesem Tempo angesichts der Generationenherausforderung Klimawandel standhalten können, wäre wohl genauso vermessen wie es dumm wäre, die Komplexität und gegenseitigen Abhängigkeiten dieser Themen weiterhin zu ignorieren. So scheint die Einordnung des Nachhaltigkeitsspektrums in unsere Disziplin eine erste Hürde darzustellen. Angesichts der Haltlosigkeit und Marktfreundlichkeit der vergangenen zwei Jahrzehnte, müssen wir Architekt:innen hier mutig und mit Umsicht agieren. Grüne oder nachhaltige Architektur darf sich nicht als nächster, oberflächlicher Trend aufreiben, sondern muss den Weg zu den Grundwerten unserer Disziplin finden. Während die Architekturszene eine Vielzahl von Stilen diskutiert und propagiert hat, ist die Bauindustrie unglaublich agil geworden. Neue Strategien wie beispielsweise das Bauteilrecycling, die ihre kontextualisierten Bedeutungen und ihre Rollen in einem vernetzten, gesamtheitlichen Architekturdiskurs erst noch finden müssen, werden bereits von internationalen Grossunternehmen als marktgerechte Produkte annektiert.


Bauen ist heute ein grösstenteils digitalisiertes Unterfangen. Automatisch abgebaute Rohstoffe werden maschinell veredelt und zu Halbfertigprodukten verarbeitet, bewertet, gehandelt, evaluiert und montiert. In dieser Kette kommen Menschen vor, die jedoch wenig bis keinen Einfluss mehr darauf haben, wie und in welcher Qualität sich die sichtbare Oberfläche, der fertige Raum oder das Haus in seiner Gesamtheit am Ende präsentiert. Diese Tatsache eliminiert unsere persönliche Betroffenheit und verändert unser Verhältnis zum Gebauten massgeblich. Während jede Form von menschlicher Tätigkeit – wie zum Beispiel die Fertigung von etwas – immer eine Willensleistung voraussetzt, hängt die maschinelle Produktion lediglich von der Verfügbarkeit der Ressourcen und dem Entscheid zur entsprechenden Investition ab. Sogar Stil- und Ausdrucksfragen löschen sich gerade selbst aus der Gleichung. Moderne Fertigungsmethoden mit computergesteuertem Zuschnitt und Abbund, kennen keine unterschiedliche Schwierigkeit, sondern lediglich Laufmeter und Maschinenzeit. Ob eine Fassade in manieriert-ornamentalen Formen oder regelmässig rechtwinklig geschnitten wird, verursacht nur noch marginale Mehraufwände. Hatte architektonische Qualität früher also auch eine politische Ebene, die Frage nach den Möglichkeiten der Einzelnen und dem Zusammenspiel der Vielen, neutralisiert sich dies heute. Von politischem Interesse sind nur noch die hintergründigen Prozesse und Handelsketten.


Und genau hier schliesst sich der Kreis. Wir haben die Annäherung an unsere Wahrnehmung und die Gegenwart damit gestartet, dass wir – angesichts der Ablösung von Bild und Ziel – immer und nie irritiert sind. Beenden möchte ich sie damit, dass diese Beobachtung einher geht, mit dem Verlust aller Zeiten ausser der Gegenwart7 . Das Spektakel der Bilder ist keiner Vergangenheit und keiner Zukunft verpflichtet. Wir haben sowohl verlernt frühere Beispiele in ihrer gesamten Komplexität weiterzudenken, wie auch neuen, beispiellosen Ideen zu vertrauen. Dabei scheint es angesichts der drohenden Katastrophenszenarios planetaren Ausmasses, von grosser Dringlichkeit, das fundamental Neue zu denken. Viel zu oft beschäftigen wir uns, im Glauben daran den Stand der Dinge konservieren zu können, mit Dingen die neuartig und harmlos sind. Wir treten in kleinsten Schritten auf der Stelle, obwohl gerade wegen Art und Dimension der bevorstehenden Herausforderungen, kühne Ideen und strukturelles Umdenken nötig wäre. Architektur als Sammlung von dynamischen, kulturell konnotiert und produzierten Fragmenten zu verstehen, könnte dabei die reinste und optimistischte Leseart der gegenwärtigen Praxis sein. Das Fragment ist indifferent bezüglich Beziehungen und Bezügen, kann diese jedoch jeder Zeit und mit allen räumlichen Akteuren verhandeln. So wäre es wohl der grösste denkbare Beitrag, den wir als praktizierende Architekt:innen leisten können, wenn wir Ziele und Wahrnehmung wieder in ein Verhältnis setzen, Zielkonflikte offenlegen und der Architektur die Irritation wieder beibringen können. Eine Architektur die in ihrem Selbstverständnis direkt und unbeschönigt, in ihrer Repräsentation klar und transparent und in ihrer technischen Realisierung – im positivsten Sinne – opportunistisch und offen bleibt. Eine gebaute Umwelt die neue Bilder und neue Räume schafft, die etwas mit dem Wesen der Dinge zu tun haben und uns herausfordern. Denn ohne Irritation als Initiator, scheint das konsequente Umdenken in weiter Ferne.



  1. 1. Vgl. Nicolas von Cusa – Coincidentia Oppositorium 

  2. 2. Vgl. Walter Benjamin – Das Kunstwerk im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit 

  3. 3. Vgl. Sigmund Freud – Das Unbehagen in der Kultur 

  4. 4. Vgl. Andras Reckwitz – Gesellschaft der Singularitäten 

  5. 5. Vgl. Jean Baudrillard – Das System der Dinge 

  6. 6. Vgl. Guy Debord – Die Gesellschaft des Spektakels 

  7. 7. Vgl. Marcus Quent (Hrsg.) – Absolute Gegenwart 

Publiziert in Lila Strauss #4, Mai 2022

 
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