62 Trans #35 – Bruch text

1.Der Eindruck von Weitem


Brüche, egal ob gesellschaftlicher oder kultureller Natur, sind retroaktive Zuschreibungen. Erst aus einer gewissen Distanz betrachtet, in der quasi geschichtlich verringerten Auflösung des Bildes, werden sie sichtbar. Wir brauchen diesen Eindruck von Weitem um die grossen Schritte zu sehen. Leben wir in der Gegenwart oder gehen vorwärts im Glaube die Zukunft zu gestalten, sehen wir das Kontinuum: Den Weg und das Ziel.


2.Coincidentia Oppositorum


Brüche, egal ob inhaltlicher oder formaler Natur, definieren sich aus dem Verhältnis zum Subjekt ihrer Ablehnung. Brüche besitzen keinen gegenständlichen Charakter, sie erhalten ihre konkrete Identität aus der Differenz ihres Effektes zum zu überwindenden Status Quo. Wenn wir einen Bruch benennen, verbinden sich die beiden ihn bedingenden Seiten, das Vorher und das Nachher, im Sinne des Zusammenfalls von Gegensätzen - der „Coincidentia Oppositorum“1. Diese Verbindung scheint oftmals stärker als die Trennung welche der Bruch zu bewirken vermag.


3.Die scheinbare Unverückbarkeit der Dinge


In einer Gesellschaft der Singularitäten wird, ganz im Gegensatz zur klassisch modernen Gesellschaft, nicht mehr das Allgemeine, sondern das Besondere erwartet2. Dabei orientiert sich die Wirtschaft und die Industrie immer stärker am Kulturkonsum unserer Zeit. Das Universelle wurde abgelöst vom Individuellen, Besonderen und Massgeschneiderten. Dieses gilt es, in widersprüchlichster Weise, in einer noch immer streng normierten Vermarktungs- und Produktionslogik der Industrialisierung zu fabrizieren. Stete Verfügbarkeit und marktdiktierte Kostenziele für das Einmalige. Der Druck der rasenden Neuheit beschert uns dabei lauter vermeintlich Neues: Bilder aus neu konfigurierten Fragmenten des bereits Bekannten. Wie die Ready-To-Wear Fashion ihre eigenen Designs mit neuen Farben oder Materialien recycelt, scheint es eine Tendenz zur Ready-To-Build Architektur zu geben. Sie appliziert Fassaden nach dem aktuellen Gusto und passend zum Budget auf bewährte Strukturen und Typologien. Was sich in seinen Anfängen noch auf qualitativ minderwertige Fertighäuser beschränkte, hat heute auch die Welt der Feuilletons, des respektablen Fach-Diskurses und der Magazine erreicht. Kein Wunder - schliesslich feiern wir das Singuläre in einer Welt der Präambeln, Haftungsausschlüssen, technischen Vorgaben und Normierungen. Unter Zeitdruck kumulieren sich diese zu A-priori-Realitäten, welche es durch Entwurf und Realisierung bloss noch zu materialisieren gilt. Oder wie es James Bridle in „The New Dark Age“ beschreibt, stehen uns immer mehr nicht-kontextualisierte Informationen zur Verfügung. Da gleichzeitig allerlei Technologien, Systeme und deren Interdependenzen im Eiltempo wachsen, verlieren wir den Anschluss, werden abgehängt und wissen relativ betrachtet immer weniger3. Wir orientieren uns in diesem halbdiffusen Raum am vermeintlich Erkennbaren und freuen uns an dem was noch eindeutig bestimmt scheint. Paradoxerweise nehmen wir, je weniger wir sehen, die Dinge als umso fester und unverrückbarer wahr. Wir begreifen die Komplexität und dabei unsere Möglichkeiten diese zu gestalten nicht mehr.


Wenn es nach dem freien Markt geht, soll Architektur im nervösen Feld enger Leitplanken, zuverlässig das Neue fabrizieren. Architektur wird über das frische Bild vermarktet und als technisches Objekt diskutiert. Im Streben den neusten Erkenntnissen und der technischen Komplexität Schritt zu halten, wird jedes Bauteil auf jeder Ebene durchleuchtet. Ökonomie, Ökologie, Tradition, political correctnes, Bauphysik, Wartungsaufwand und Verfügbarkeit informieren sich und unsere Bewertung gegenseitig. Das prägende Neue ist, im eigentlichen Sinn, die blosse Auseinandersetzung mit seinen Bedingungen4. Während sich diese stets ändern, üben wir uns in der Meisterhaftigkeit der Anwendung unserer Werkzeuge. Wir Fokussieren wahlweise auf den Prozess oder das Resultat und verlieren dabei die Natur und die Tragweite unserer Arbeit aus den Augen. Wenn das einzige Werkzeug über welches wir verfügen ein Hammer ist, versuchen wir alles um uns herum zu behandeln als ob es Nägel wären. Dabei denken wir nicht mehr über den Hammer nach! Ein Hammer kann nicht nur Nägel einschlagen, er kann sie auch ziehen. Er kann Eisen schmieden, Holz und Stein in Form hauen, Fossilien bergen und Anker für Steigseile fixieren. Der Hammer bestätigt im Gericht die Rechtssprache, ruft zur Ruhe auf oder kann im athletischen Kontext geworfen werden. Von Gottheiten geschmiedet soll er das Wetter beeinflussen - Thor’s Hammer „Mjölnir“ erschafft Blitz und Donner und wurde zur Vorlage unzähliger Amulette und Glücksbringer5. Wir müssen uns wieder damit auseinandersetzen, was unsere Werkzeuge und unsere Anwendung dieser Werkzeuge bedeuten, welchen Einfluss sie nehmen und welche Werte wir uns und unserem Schaffen eigenverantwortlich zugestehen können.


“The future is dark, which is the best thing the future can be, I think.“6 Dies schrieb Virginia Woolf am 18.1.1915 in ihr Tagebuch. Die Dunkelheit Woolfs kann direkt auf die düstere, bedrohliche Weltlage im Angesicht des ersten Weltkrieges bezogen werden. Viel eindringlicher beschreibt sie aber ein unerschüttertes Vertrauen ins Ungewisse. Die Worte signalisieren eine Bereitschaft, dem noch nicht Bekannten mit Hoffnung gegenüberzutreten und ein Bewusstsein, das Unbekannte nicht durch vage Annahmen oder haltlose Prophezeihung aufdecken und entzaubern zu wollen. Betreten wir einen Raum in absoluter Dunkelheit, kann darin durchaus Gefahr lauern. In der Dunkelheit kann aber auch Positives warten. Was wir noch nicht sehen ist noch nicht bestimmt. Ohne Verklärung oder Anspruch an falsche Absolutheit, stellt Virginia Woolf ihre Gedanken dieser Realität. Mit dem Anhang „I think“, wird jegliches Wiegen in falscher Sicherheit ausgeschlossen. Das Unbekannte wird als Potenzial betrachtet und scheinbar Bekanntes in Frage gestellt. Als Gestalter müssen wir wieder lernen uns mit Mut und Offenheit dem Unbekannten zu stellen. Doch ungleich Woolf fürchten wir uns viel zu oft vor leidenschaftlichen Entscheidungen, welche den Raum der Erfahrung eröffnen könnten. Zu oft halten wir uns an ein permanentes Abwägen und andauerndes Abgleichen von potenziell austauschbaren Optionen7. Wir versuchen Subversives, wenn es denn mal auftritt, schnellstmöglich in diskutier- und zuordenbare Kategorien zu überführen8. Diskutiert wird alles Fassbare, von Typologie über Dichte über Referenz oder Referenzlosigkeit bis hin zum Stil. Dieser wird in der Bilderwelt der Gesellschaft der Singularitäten zum schnellen und schnell erfassbaren Merkmal jeglicher Zuschreibung. Die neuartigen Bilder zerlegen den markanten Bruch in viele kleine Stilbrüche - trennen die postmodernen Referenzen von den tektonischen, die italienischen von den angelsächsischen, die Spreu vom Weizen. Doch gerade ausserhalb der präzisen Zuschreibung, im toten Winkel unserer Kategorien und Typen, liegen grosse Potenziale das Festgefahrene neu zu denken. Stellen wir uns vor, alles was ausserhalb unserer Aufmerksamkeit - quasi im Dunkeln - liegt, wird flüssig! Wir sollten die Dinge aus unzähligen Perspektiven betrachten, so dass immer andere Teile aus unserem Fokus verschwinden. Wir sollten die Dinge drehen und wenden, sie lange und nahe untersuchen. Wir sollten mit Leidenschaft Entscheidungen treffen, so dass sich die andern Teile bei ihrer Rückkehr in den Fokus, rund um die Entschiedenen herum, zu einem neuen Ganzen verfestigen.


4.Hypernormal


In Anlehnung an den Anthropologie-Professor Alexei Yurchak9 oder den Filmemacher Adam Curtis könnte man den gegenwärtigen gesellschaftlichen Modus als „Hyper-Normalization“ bezeichnen. Strukturelle Probleme und die Sackgassen der kurzfristigen Gewinnoptimierung sind sichtbar und bekannt. Dennoch werden vorderhand regulatorische Feinjustierungen diskutiert und das schwer fassbare Ganze als unverrückbar akzeptiert. Architektur als gebaute Umwelt spielt dabei eine zentrale Rolle: Gestaltung transportiert und prägt unser Wertesystem10. Unser Metier braucht also ein Selbstverständnis, welches es erlaubt, Fragen zu stellen und nicht bloss Nachfragen zu beantworten. Wie kann es sein, dass den immer höheren Anforderungen betreffend Ökonomie und Ökologie mit immer komplizierter, technischen Lösungen begegnet wird, der gestalterischen Ausdruck, die Atmosphäre und die konstruktive Intelligenz sich jedoch an den Bildern der Vergangenheit orientiert? Wir sehen den Stapel der bereits zitierten Stile wachsen, nehmen die kurzen Halbwertszeiten wahr und erkennen die innere Diskrepanz zwischen steinernem Haus und neuzeitlichem Schichtenaufbau dessen Fassade. Da die formale Identität der Entwürfe immer weniger in der Realität ihrer Entstehung verankert ist, wechseln Trends und Tendenzen, was angesagt ist und was es zu vermeiden gilt, immer schneller. Wenn sich das Aktuelle nicht mehr lange genug verfestigen kann bleibt auch der Bruch mit diesem oberflächlich und unscharf. Dieser rein formale Bruch zersplittert allenfalls ein bestehendes Bild, erschüttert aber keine tiefen Strukturen, es entstehen lediglich neue Bilder aus den Teilen des Letzten. Der Bruch verliert seine subversive Kraft und verkehrt sich in sein Gegenteil. Anstelle der erhofften Veränderung tritt die Affirmation - er bestätigt die Dominanz der Bilder und deren steten Anspruch auf Neuartigkeit.


5.Die leidenschaftliche Entscheidung


Wir brauchen den Bruch. Wenn sowohl das Normale wie auch die Abweichungen von der Norm säuberlich kategorisiert und geordnet erscheinen, scheinbar zusammenfallen, braucht es ein grösseres Anfangsmoment. Wir müssen tiefer schürfen. Die Transparenzgesellschaft drückt uns alles direkt aufs Auge11. Selbst das Neue erscheint einfach und, im wahrsten Sinne des Wortes, durchschaubar. Es ist ja nicht so, dass es keine guten Ideen oder keine gut gemeinten Vorschläge gäbe, im Gegenteil! Viele gute Ideen bekommen Plattformen, wachsen, verhalten sich viral, werden diskutiert und debattiert. Doch die abwägende Vernunft steht einem handelnden Verstand im Weg. Möglichkeiten in eine Starre der andauernden Evaluation. Sie werden ausgeleuchtet und ausgebeutet, bis nur noch Partikularinteressenen an der Oberfläche abgebildet werden. Wollen wir das wahrhaft Neue denken müssen wir unseren Fokus ändern. Wir sollten als Eines in Erscheinung treten. Wir sollten die Konturen schärfen, den Gesamteindruck hervorheben, ins Auge springen wollen mit klaren Zügen und überwältigender Geste. Das ganze Ausmass wird zu Beginn noch leise und blass auftreten, noch verschwommen. Doch nach und nach verdichtet sich das Ganze gegen innen12. Wir sollten nicht sofort alle Feinheiten verhandeln sondern das grosse Ganze, den Knochenbau, das Grundgerüst des Neuen in den Augen behalten. Anstatt uns an seinen Bedingungen zu erschöpfen, können wir über die Potenziale des Neuen denken. Der Bruch wird zum Turbo der Konvergenz. Es ist möglich die gemeinschaftliche Vision zu entwickeln, gemeinschaftliche Ideale zu formulieren, offen zu sein, Kompromisse zu verkraften und mutige Entscheide zu treffen - wenn wir mit den Umrissen starten. Oft diskutieren wir die konkreten Dinge, Gesetze, Architektur als technisches Objekt. Selbst die allem zu Grunde liegenden Werte werden abstrahiert, vermessen und verglichen. Wir sollten aufhören Pläne für Grosses zu verwerfen, weil das Kleine gerade nicht verfügbar ist. Grosse Ideen brauchen scharfe Konturen und ein weiches Inneres. Wie Wellen können wir, mit unseren Werkzeugen und mit unserer steten Arbeit, das Innere formen, seine Lücken durchspühlen, seine Gestalt formen. Anfängliche Widersprüche erodieren. Der Bruch ist als Bild ein mächtiges Werkzeug. Er vermag der Sehnsucht Ausdruck zu verleihen, Widersprüchliches zusammen zu halten, Dingen eine Form zu geben. Bei bewusster Anwendung kann der Bruch die Hürden des Festgefahrenen überwinden. Er kann verbinden, motivieren, scheinbare Unverückbarkeiten ins Wanken bringen und die Dynamik für tiefgreifende Veränderung freisetzen. Der Bruch ist jedoch keine Methode, keine Arbeitsanleitung oder als Prinzip verstanden werden. Wollen wir Dinge wahrhaft verändern, gibt es keine Abkürzung sondern bloss das schwer fassbare Ganze.


6.Gegenwart


Befreit von der Bürde der Retrophilie13 wäre alles Notwendige vorhanden. Unzählige Themen, grosse und kleine, durchdringen unsere Gegenwart. Unzählige gesellschaftliche, technische und politische Entwicklungen informieren den Inhalt unserer Arbeit. Fokussieren wir neu. Gesucht ist eine Architektur die sich aufmerksam dem Jetzt zuwendet, sich Themen unvoreingenommen annimmt und sich dem Neuen stellt. Nicht motiviert vom Spektakel14 und nicht mit den Mitteln vergangener Zeiten gehen wir vorwärts.


7.Bruch


Es gibt keinen Bruch.


  1. 1. Vgl. Nicolaus de Cusa - Die belehrte Unwissenheit, 1440 

  2. 2. Vgl. Andreas Reckwitz - Gesellschaft der Singularitäten, 2016 

  3. 3. Vgl. James Bridle - The New Dark Age, 2018 

  4. 4. Vgl. Laurent Stalder - Positions and Emancipation in Architecture (S.222-), 2018 

  5. 5. Vgl. James Bridle - The New Dark Age, 2018 

  6. 6. Virginia Woolf, Private Journal, 18.1.1915 

  7. 7. Vgl. Marcus Quent - Absolute Gegenwart, 2016 

  8. 8. Vgl. Marcus Quent - Kon-Formismen, 2017 

  9. 9. Vgl. Alexei Yurchak - Everything was forever until it was no more: The last soviet Generation, 2006 

  10. 10. Vgl. Silke Steets - Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt, 2015 

  11. 11. Vgl. Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, 2012 

  12. 12. Vgl. Mariette Navarro, Wir Wellen, 2014 

  13. 13. Vgl. Zygmunt Baumann, Retrotopia, 2017 

  14. 14. Vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967 

Publiziert in Trans #35, August 2019

 
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